Ich war mit ihr durch linden unterwegs, das feste ziel war nicht vorhanden. Plötzlich, mitten im gehen, hielt ich inne. Denn in der mitte des fußweges saß ein kleines knäuel grauer vogel, aufgeplustert und etwas zitternd, aber unfähig, wie ein freier vogel vor uns wegzufliegen. Sie wäre fast darüber geschritten, so unerwartet war dieser anblick.
Wir nahmen das arme bündel leben in die hand. Es war ein grauer vogel, noch jung, aber der schnabel zeigte nicht diese typische, am rande stehende verfärbung, wie sie oft bei ganz jungen, gerade dem neste entkommenen vögeln sichtbar wird. Ein auge war halb geschlossen, das andere offen und wach. Der vogel war grau, aber wir konnten nicht entscheiden, von welcher art er war. Hätten wir ihn nicht genommen, er wäre gewiss in den nächsten minuten zu einem hundespielzeug geworden, wenn ihm nicht ein unachtsamer fuß die knackende erlösung gegeben hätte.
Dieser vogel war offensichtlich sehr stark angeschlagen. Seine angst vor uns war spürbar, aber er war nicht imstande, etwas zu unternehmen. Und wir waren uns wirklich unschlüssig, wie wir mit diesem tier umgehen sollen. Es war uns sofort klar, dass wir den vogel nicht einfach so mitten auf einem weg für fußgänger, hunde und rasende radfahrer liegen lassen wollten. Doch waren wir hin- und hergerissen zwischen der entscheidung, dem hilflosen tier mit quicken ruck das genick zu brechen, um sein leiden zu beenden oder es irgendwo hinzusetzen, wo es noch eine schangse hat, sich in den nächsten minuten aufzurappeln. Niemand halte mich für ein weichei, aber ich war nicht dazu imstande, das tier totzumachen. Und sie nahm auch immer mehr von dieser idee abstand.
Sie kletterte mit dem vogel über einen zaun und eine hecke, um ihn in einem von hunden unbehelligten vorgarten abzusetzen. Denn wir sagten uns, dass man der natur wohl ihren lauf lassen solle. Die kurz aufkommende idee, das kleine tier einfach in ihre wohnung zu nehmen, haben wir sofort als kwälerei eines wildtieres verworfen. Während sie also den vogel in eine relative sicherheit vor hunden brachte, blieb ich auf dem weg, um unser beider fahrräder zu bewachen.
Eine tochter mit ihrer mutter kam des weges, und beide schauten sie sich angestrengt um, als hielten sie nach etwas ausschau. Doch da, wo sie suchten, da stand ich mit zwei fahrrädern und einer leicht getrübten stimmung. Die mutter fragte mich, ob ich einen vogel gesehen hätte, und ich erzählte kurz die geschichte und was wir da taten. Dabei erfuhr ich, dass das vöglein der tochter beim radfahren in die speichen geraten sei, woraufhin die tochter zu ihrer mutter rannte.
Schließlich standen wir zu viert an der hecke und schauten sehr interessiert auf einen vogel, der uns sonst gar nicht aufgefallen wäre. Wir sprachen über nahrungsketten, den tod, die existenz von raubtieren, den speiseplan von katzen — alles temen, die die kleine tochter mit ihren acht jahren das erste mal in ihrem leben hörte. Zu dem widerstreben, mit dem sie diese mitteilungen aufnahm, mischte sich ein gehöriges maß faszinazjon für die vorgänge in einer natur, die ihr als echtes stadtkind wohl bislang sehr fremd gewesen, so sehr wir alle als recht unbedeutender teil auch in diesen prozessen aufgehen. In ihr erwachte eine ahnung.
Während der dreißig minuten, die wir dort standen, begann der vogel in seiner lust nach dasein zu fiepsen und einen platz mit besseren sichtschutz einzunehmen. Wir fragten uns, wie es ihm wohl ergehen wird, und ich schraubte meinen sonst so schwarzen pessimismus ein wenig zurück. So sehr ich auch glaubte, dass die nächste freilaufende katze ein leichtes mahl finden würde, so sehr zeigte ich dem kleinen mädchen auf, dass es im leben immer eine möglichkeit gibt, wenn der lebende nur aktiv ist und nicht die dinge fatalistisch über sich ergehen lässt. Und ich bin mir gewiss, dass die kleine tochter, die sichtbar stolz auf ihre fortschritte im schreiben war, in dieser halben stunde mehr für ihr leben relevante dinge gelernt hat, als in zwei jahren dumpfer beschulung und in acht jahren des fernsehens.