Das Kind wird ja nicht gefragt beziehungsweise kann gar nicht gefragt werden, wenn es zu klein ist. Würden Eltern mit einem wenige Monate alten Säugling zum Tätowierer gehen und ein großflächiges „religiöses“ Tattoo verlangen, wäre das sittenwidrig und strafbar. Dasselbe gilt für fast alle anderen Körperverletzungen. Niemand käme auf die Idee, Eltern dürften aus Gründen der „Tradition“ oder weil es angeblich ein Gott befohlen hat, ihren Kindern die Ohrläppchen abschneiden, Tellerlippen gestalten oder ihnen rituelle Narben im Gesicht zufügen. Ich glaube auch nicht, dass ein Arzt oder eine andere Person gegen den ausdrücklichen erklärten Willen eines sechsjährigen Mädchens allein auf Wunsch von deren Mutter oder Vater dem Kind Ohrlöcher stechen würde.
Es geht nicht darum, ob oder dass die Beschneidung per se unzulässig wäre. Selbstverständlich kann jede entscheidungsfähige Person (etwa ab dem Zeitpunkt der „Religionsmündigkeit“) darüber frei entscheiden, anders als über andere, „sittenwidrige“ Eingriffe, die auch durch Einwilligung nicht gerechtfertigt werden können, etwa chirurgische Gestaltungen grotesker Schönheits-Ideale. Wer sich beschneiden lassen will, aus welchen Gründen auch immer, darf das selbstverständlich tun. Es geht darum, ob Eltern/Sorgeberechtigten das „Recht“ einzuräumen ist, ihre eigenen (!) Moral- oder Religionsvorstellungen mit Gewalt durch nicht revidierbare körperliche Eingriffe an ihren Kindern zu „verwirklichen“
[…] Es ist in Deutschland bei Strafe verboten, einem Schaf den Hals durchzuschneiden. Aber jeder fundamentalistische „Beschneider“ darf Kleinstkindern gegen ihren Willen ohne wirksame Betäubung auf Befehl der Eltern die Penisvorhaut abschneiden. Ich halte das für soziologisch erklärbar, aber für in der Sache abwegig
Prof. dr. Thomas Fischer